Wieso Dauerwahlkampf und Integrationsdebatte zu Spannungen führen

Yasin Baş yazdı:
Yasin Baş yazdı:

Am 14. Mai sind die Bürger in Nordrhein-Westfalen (NRW) aufgerufen zur Wahlurne zu gehen. Der Spitzenkandidat der CDU, Armin Laschet, trumpft vor allem mit dem Thema Sicherheit auf. In den jüngsten Wahlprognosen liefern sich SPD und CDU mit jeweils 34 Prozent ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Dies hatten die Wahlforscher auch schon vor der Landtagswahl im Saarland vorausgesagt. Am Ende zeigte sich, dass Prognosen auch gewaltig falsch liegen können. SPD und CDU lagen elf Prozent auseinander. Als drittstärkste Kraft in NRW wird derzeit die FDP gehandelt. Sie kommt auf unrealistische zehn Prozent. Die AfD soll eine Zustimmung von acht Prozent haben. Die Grünen landen überraschend auf sechs Prozent. Bleibt abzuwarten, ob die Öko-Partei, die sich immer weiter von den eigenen Wurzeln entfernt, überhaupt in das Landesparlament einziehen kann. Die Linkspartei kämpft derzeit ebenfalls mit der Fünf-Prozent-Hürde. Es wäre ein Armutszeugnis für sie, falls diese beiden Parteien bei der Generalprobe für die Bundestagswahl durchfallen und es nicht in den NRW-Landtag schaffen.

Besonders türkischstämmige Wähler in NRW begegnen diesen Parteien mit immer mehr Skepsis. Es waren allen voran Funktionäre der Grünen und der Linken, die den türkischen Wahlkampf zur Abstimmung der neuen Verfassung in der Türkei nach Deutschland und nach NRW hineingetragen haben. Unter dem Deckmantel der „Demokratieverteidigung“ fand eine radikale Unterstützung eines bestimmten Lagers statt. Dieses war so „bunt“, dass in ihm auch separatistische und in Teilen terroristische Gruppierungen organisiert waren. Die übersteigerte Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Landes und die maßlose Parteilichkeit in einem fremden Wahlkampf könnte sich daher kontraproduktiv für die Grünen und Linken auswirken.

Integrationsdebatte oder warum wir uns ständig im Kreis drehen

 Nach dem Referendum zur Verfassungsänderung in der Türkei entbrannte in Deutschland wieder die sogenannte Integrationsdebatte. Ein paternalistischer FDP-Politiker forderte „ein umfassendes Bildungsprogramm“ und eine „echte Wertevermittlung des Rechtsstaats“. Meinte er damit wie viele Journalisten und Politiker es taten, die vermeintlich „ungebildeten und dummen Türken“, die bei dem Verfassungsreferendum mehrheitlich mit „Ja“ abstimmten? Meinte er, etwa die „unerzogenen Türken“, deren Vorfahren arme und bildungsferne Bauern waren und die endlich mal „so richtig nach den eigenen Wünschen erzogen“ werden sollten? Der koloniale Geist des 19. Jahrhunderts lässt grüßen. Meinte er vielleicht die türkischstämmigen Menschen, denen derzeit von vielen, auch Vorbildpersonen, eine, gelinde ausgedrückt, „gute Heimreise“ gewünscht wird, weil sie an einer Wahl teilgenommen haben und ihre Stimme nach ihrem freien Willen und Gewissen abgegeben haben? Oder sind damit die türkischstämmigen Bürger gemeint, denen unterstellt wird, „Reichsbürger“ zu sein, nicht mit beiden Beinen auf der freiheitlichen Verfassung zu stehen, die Demokratie zu missachten, einen bösen Diktator zu unterstützen?

Sowohl „Ja-“ als auch „Nein-Sager“ wollen eine demokratische Türkei

 Ich bin davon überzeugt, dass die große Mehrheit der Menschen, die für die neue Verfassung in der Türkei gestimmt haben genauso wie die große Mehrheit derjenigen, die gegen sie gestimmt haben, eine demokratische, rechtstaatliche, stabile und fortschrittliche Türkei wünschen. Bei den Wahlen ging es den meisten Bürgern aber nicht um die Verfassung. Es ging vielmehr darum zu demonstrieren, ob man für oder gegen den amtierenden türkischen Staatspräsidenten ist. Mit den Details der neuen Verfassung haben sich die wenigsten beschäftigt.

Mehr Respekt vor der Souveränität des Wählers

 Schlimm ist die Tatsache, dass sich Befürworter oder Gegner des Referendums sowohl in Deutschland wie auch in der Türkei stigmatisiert und ausgegrenzt fühlen. In Deutschland sind es mehrheitlich die „Ja-Sager“, die sich dämonisiert fühlen. In der Türkei dagegen die „Nein-Sager“. Außerdem war es auch nicht die feine demokratische Art einiger europäischer Staaten, so massiv in den Wahlkampf eines anderen Landes eingegriffen zu haben. Ich habe nämlich noch nicht davon gehört, dass französischstämmige Le-Pen Wähler in Deutschland oder Belgien, Niederlande oder Österreich als „Feinde der Demokratie“ oder „Anhänger einer Diktatorin“ bezeichnet wurden und doch bitteschön das Land zu verlassen hätten. Ebenso wurde nicht davon gesprochen, wie gespalten Frankreich doch aufgrund des Wahlausgangs derzeit sei. Bei dem knappen Brexit-Urteil Großbritanniens (51,9 Prozent zu 48,1 Prozent) sprach auch kaum jemand von einer Zweiteilung der Gesellschaft. Nicht zuletzt ist es höchst entlarvend, wenn subversive Wortführer aus Presse, Politik und Zivilgesellschaft versuchen, eine Art „Gezi 2.0“ heraufzubeschwören.

Kann man NPD-, AfD- und Linksparteiwähler ausweisen?

 In der derzeitigen Integrationsdebatte ist folgendes anzumerken: Wie wäre es vielleicht, sich an die eigene Nase zu fassen und zu fragen, woran man selber in all den Jahren gescheitert ist? Möglicherweise wäre es ein erster Schritt, dass diejenigen an Staatsbürgerkursen, Weiterbildungsmaßnahmen zur politischen Bildung und Demokratieseminaren teilnehmen, die dies gerade so laut von „den Türken“ fordern. Menschen, die eine souveräne Stimme und Meinung besitzen aus dem eigenen(!) Land ausweisen zu wollen, erinnert an unschöne Zeiten aus der deutschen Vergangenheit. Falls diese trügerische Logik konsequent vollzogen würde, müssten dann nicht auch NPD-, AfD-, Linkspartei- oder sogar manche CSU-Wähler ausgewiesen und ausgebürgert werden? Wer also immer noch nicht begriffen hat, dass die Menschen und deren Nachkommen, die vor mehr als einem halben Jahrhundert nach Deutschland eingewandert sind, als eigene Bürger anzusehen, kann noch weitere hundert Jahre über Integration diskutieren. Diejenigen in der Mehrheitsbevölkerung, die selbst in Parallelgesellschaften leben oder sich immer mehr von grundgesetzlichen Werten entfernen, sind aufgerufen, sich in die „Mitte der Gesellschaft“ einzugliedern.

Grundgesetz als Basis der Diskussion

 Unsere Gesprächsgrundlage sollte sich eher hierum drehen: Alle Menschen, die sich innerhalb der Grenzen der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, haben die Rechte, Pflichten, Freiheiten, Gesetze und Werte des Landes zu beachten und müssen danach leben. Das Grundgesetz stellt die Basis dar. Einwanderer aus der dritten, vierten und fünften Generation leben nun in Deutschland. Sie mögen vielleicht ausländische Wurzeln haben, aber sie sind faktisch Deutsche. Die überwältigende Mehrheit dieser Menschen steht nicht, wie der Grünen-Politiker Cem Özdemir es sagte, nur mit den Zehenspitzen auf der Verfassung, sondern ganz fest mit beiden Beinen darauf. Pluralismus, Rechtsstaatlichkeit und Freiheit ist das A und O. Kurz: Das Grundgesetz, das unter anderem Meinungs- und Religionsfreiheit garantiert, ist nicht verhandelbar. Wenn dies immer noch nicht erkannt wurde und die Bürger dieses Landes noch immer als „Andere“ oder „Fremde“ gesehen werden, erübrigt sich die Diskussion. Diese Erkenntnisverweigerung und „Befremdung“ des „Anderen“ ist es nämlich auch, die die deutsche Diskussion von den klassischen Einwanderungsstaaten wie USA, Kanada oder Australien unterscheidet. Und zwar mehrheitlich nachteilig unterscheidet. Die Eliten des Landes müssen endlich begreifen, dass wir ein modernes Einwanderungsland sind und Vielfalt und Verschiedenheit als Chance nutzen sollten. Ansonsten drehen wir uns wie seit Jahrzehnten im Kreis und führen alle Jahre wieder unsere Integrationsdebatten, die uns nicht voranbringen. Der Migrationsforscher Klaus J. Bade sagt genau deshalb: „Literaturkenntnis schützt vor Neuentdeckungen“. Das Rad muss also nicht neu erfunden werden. Es gibt genügend Beispiele und Praktiken, wie Einwanderungspolitik und Integration, also Teilhabe und Eingliederung, gelingen kann. Und wie aus ehemaligen Einwanderern gleichberechtigte Bürger werden. Dafür braucht es keine Sonderrechte, sondern nur das gleiche Recht für alle!

Teilhabe nicht nur fordern, sondern auch aktiv fördern

 Die beste Integrationspolitik ist Teilhabe. Gleichberechtigte Teilhabe. Niemand soll wegen seiner politischen oder religiösen Meinung diskriminiert werden. Niemand soll wegen seines Namens, Haut- oder seiner Haarfarbe auf dem Bildungs-, Arbeits- und Wohnungsmarkt ausgeschlossen werden. Wer lautstark nach Integration ruft, muss sich mit den Ausgrenzungsmechanismen bewusst auseinander setzen. Dies darf nicht rein appelativ erfolgen. Denn Diskriminierung und Ausgrenzung ist laut internationalem Recht ein Straftatbestand. Manchen in Deutschland mag dies nicht immer bewusst sein, aber es gibt internationale Rechtsverordnungen, die unter der Überschrift hate-crimes geführt werden. Alle Aufforderungen der Antidiskriminierungsstellen haben hierzulande jedoch nur empfehlenden Charakter und keine rechtliche Relevanz. Wir können daher von einem „zahnlosen Tiger“ sprechen. Manche Rechtsprechungen haben nicht selten die Neigung, Diskriminierung zu legitimieren. Oft wird sogar als Meinungsfreiheit aufgefasst, was sich bewusst gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen oder Religionen von Minderheiten richtet. Doch wehe, die Mehrheitsbevölkerung fühlt sich dadurch angetastet, denn dann werden andere Maßstäbe gesetzt. Bereiche aus der Kunst und Presse, aber auch Urteile im Bereich des religiösen Lebens und Berufslebens dienen hier als Beispiele.

In Großbritannien wird Verschiedenheit anders aufgefasst als im „Alten Europa“. Unterschiede können sehr wohl als Stärken genutzt werden. Die Kunst ist es, das zu schaffen. Manche Staaten versuchen jedoch, die Diversität zu unterbinden. Neutralität bedeutet aber nicht, dass etwas verboten wird, sondern dass der Staat neutral ist, also weder positiv, noch negativ. Es gibt sozusagen eine Dissonanz zwischen der Bewertung verschiedener Inhalte in Bezug auf Einwanderer und Alteingesessene. Denn auch die Einheimischen sind ehemalige Einwanderer, die es nur vergessen oder verdrängt haben. Auch hier ein anschauliches Zitat von Klaus J. Bade: „Die sogenannte Mehrheitsgesellschaften ohne Migrationshintergrund sind in Wahrheit Gesellschaften mit verlorener Erinnerung an die eigenen Migrationshintergründe.“

Vielfalt und Verschiedenheit als Stärke sehen

 Was uns als Gesellschaft voranbringen könnte, ist eine Kultur der Anerkennung von Vielfalt und Verschiedenheit wie in den USA. Dort ist fast jeder Einwanderer stolz darauf ein Amerikaner zu sein. Die Denkweise, die dies in Deutschland seit Jahrzehnten erfolgreich unterbindet, ist diejenige, die sich integrieren müsste. Diesen Damen und Herren wäre zu sagen: „Integriert euch doch mal!” Integration bedeutet Veränderung für beide, falls es mehr als zwei Seiten sind, für alle Seiten. Wenn eine Seite eine Veränderungsphobie hat bzw. sich dem verweigert, ist der Misserfolg vorprogrammiert. Wir müssen erkennen, dass sich neben den Migranten auch die ehemaligen Migranten, also die jetzige Mehrheitsbevölkerung, integrieren müssen. Ansonsten bekommt man genau die Sätze zu hören, die jetzt viele ungeniert und offen so aussprechen: „Geht doch zurück, wo ihr herkommt!”, „Wenn es euch hier nicht gefällt, dann verlasst doch Deutschland”, „Geht doch zu eurem Erdogan, wenn ihr ihn so toll findet”. Diese Aussagen sind die eigentliche Schande und geistige Bankrotterklärung für eine Einwanderungsgesellschaft.