Trotz der Corona-Krise möchte ich, verehrte Leserinnen und Leser, das Thema der wieder entflammten Flüchtlingstragödie an der türkisch-griechischen Grenze diskutieren. Denn während griechische Grenzschützer in den letzten Wochen auf Flüchtlinge schossen oder ihre Boote rammten, maskierte „Bürgerwehren“ sowie Nationalisten sie jagten und die Polizei Tränengas und Wasserwerfer gegen sie einsetzte, fanden griechische Flüchtlinge im Zweiten Weltkrieg selbst Zuflucht in Syrien und im Nahen Osten.
Vor der ausartenden Corona-Pandemie sorgten in den Nachrichtenkanälen folgende Aufnahmen für Empörung: Die griechische Küstenwache ging dabei gewalttätig gegen Menschen vor, die in überfüllten Schlauchbooten Schutz suchten. Die Grenzschützer gaben Schüsse ab, bedrängten die Schlauchboote mit langer, scharfkantiger Ausrüstung. Ein Boot mit 48 Menschen auf dem Weg von der türkischen Küste zur griechischen Insel Lesbos kenterte. Dabei starb ein Kind. Ein 24-jähriger Mann aus Aleppo wurde nach übereinstimmenden Berichten von Grenzbeamten in den Hals geschossen und getötet.
Daneben gingen maskierte „Bürgerwehren“ und Nationalisten mit Gewalt gegen geflüchtete Menschen, NGO-Mitarbeiter und Journalisten – auch aus Deutschland – vor. Die griechische Polizei setzte Munition, Tränengas und Wasserwerfer ein, um die schutzbedürftigen Menschen von den Grenzen fernzuhalten. Bauern fuhren ihre Traktoren vor die Grenzen, um den Flüchtlingen den Weg nach Griechenland zu versperren.
Syrien war ein sicherer Zufluchtsort für griechische Flüchtlinge
Viele Griechen waren selbst einmal in dieser schlimmen Lage und suchten Schutz vor Krieg, Hunger und Elend. Lassen Sie uns deshalb in die Geschichte zurückblicken: Die Flucht von Menschen vor Krieg über das Mittelmeer fand vor über 70 Jahren schon einmal statt. Allerdings ging die Fahrt damals in die andere Richtung. Und die Flüchtlinge waren seinerzeit Griechen und Menschen aus dem Balkan, die mit Booten oder über Land Richtung Türkei, Aleppo, im heutigen Syrien oder Nordafrika aufbrachen. Griechische Schutzsuchende gelangten mit Fischerbooten zu den Flüchtlingslagern in Syrien, Palästina und Ägypten.
Der Zweite Weltkrieg befand sich im vollen Gange, als deutsche Truppen 1943/44 nach Griechenland einmarschierten und dort mit italienischen sowie bulgarischen Einheiten das Land besetzten. Die griechische Küstenstadt Selanik (Thessaloniki) wurde schon 1941 durch die deutsche Wehrmacht eingenommen.
Diejenigen Griechen, viele von ihnen aus den ägäischen Küstenregionen, die damals nicht mit den Deutschen kooperieren und kollaborieren wollten, wurden grausam und skrupellos unterdrückt. Eine große Anzahl von Menschen wurde getötet. Die Nähe zwischen den griechischen Ägäis-Inseln und dem türkischen Festland kam den Griechen seinerzeit gelegen.
So sahen die Griechen eine Flucht über die Türkei nach Syrien als letzte Hoffnung und machten sich mit Kuttern auf zur türkischen Küstenstadt Çeşme. Von dort aus ging es weiter in die Handelsmetropole İzmir. Im Anschluss wurden die griechischen Flüchtlinge vom Bahnhof İzmir in das Erstaufnahmelager nach Aleppo (Syrien) gefahren.
Dort kamen pro Monat etwa 1000 Menschen an. Berichte von Lagerinsassen, Krankenschwestern und Mitarbeitern der damaligen Hilfsorganisation der Vereinten Nationen UNRRA (Nothilfe- und Wiederaufbauverwaltung der Vereinten Nationen) schildern das Leben in dem Lager als durchaus komfortabel.
So ist zum Beispiel davon die Rede, dass dreimal am Tag kostenloses Essen angeboten wurde. Die Geflüchteten konnten außerdem Obst, Kaffee, Tee, Zigaretten und Alkohol kaufen. Sogar ein Taschengeld soll es für die Flüchtlinge gegeben haben.
Es war möglich zu arbeiten, eine Lehre zu beginnen und Geld zu verdienen. Im Gegensatz zu den heutigen, unmenschlichen Vorfällen in Griechenland, verhielt sich die syrische Bevölkerung ausgesprochen gastfreundlich gegenüber den Griechen. Wie die Zeitung „Hier ist Al-Quds (Jerusalem)“ („Hune el Kudüs“) vom 11. Januar 1942 berichtet, hatte die Bevölkerung von Aleppo den Flüchtlingen neben Kleidung auch Nahrungsmittel gespendet.
Von Aleppo aus ging es für die Griechen dann weiter nach Palästina und Ägypten. Über 40.000 europäische Flüchtlinge konnten durch diese Schutzmaßnahmen dem Tod entrinnen.
Darüber hinaus hatten 300.000 polnische Flüchtlinge im Iran Schutz vor der deutschen Wehrmacht gefunden.
Deshalb: Griechenland und die Staaten der Europäischen Union sind gut beraten, sich ihrer Vergangenheit zu erinnern, wenn sie heute den syrischen Flüchtlingen und den übrigen Geflüchteten aus dem Nahen- und Mittleren Osten begegnen.